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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 06.02.2021


Auf dem Rücken liegend, rauchend, zur Ikone
Claudia Rothe

Fran Lebowitz ist die quintessentielle Personifikation von New Yorker Coolness und noch immer "the funniest woman in America", wie die Washington Post in den 1980ern titelte. Martin Scorsese hat ihr nun in seiner neuen Netflix-Doku-Serie "Pretend it´s a City" ein Denkmal gesetzt. Und: Es lohnt sich sehr, neben Scorseses filmischer Femmage noch einmal einen Blick auf das Leben und Werk dieser außergewöhnlichen Frau zu werfen.




In den 1970ern, mit Anfang 20, verbrachte sie jede Nacht in den legendären New Yorker Underground Clubs, zuerst im Max´s Kansas City, später im Studio 54, mit so illustren Zeitgenoss*innen wie David Bowie, den New York Dolls, Robert Mapplethorpe, Patti Smith und natürlich Andy Warhol. Viele diese*r Weggefährt*innen wurden damals zu engen Freund*innen, und Lebowitz gern gesehene Gästin auf jeder Party, da sie stets die unterhaltsamste Person im Raum war. Lebowitz gilt als Königin des "witty, dry humor", hat zu allem eine Meinung, und scheut sich auch nicht, diese jeder und jedem ins Gesicht zu sagen. Sie ist die erfrischende Abwechslung in einer Zeit, in der wir niemanden mehr verbal auf die Füße treten.

Flucht aus Suburbia

Aufgewachsen in einer jüdischen Familie im New Yorker Vorort Morristown, New Jersey, wurde sie nicht sehr religiös erzogen, besuchte sogar eine protestantische (Episcapalian) High-School und erhielt auch keine Bat Mitzvah. Wie für viele jüdische Amerikaner*innen zweiter Generation (ihre tschechisch-ungarischen Großeltern waren Anfang des 20. Jahrhunderts eingewandert), spielte das Praktizieren der Religion im Alltag keine ausgeprägte Rolle, ihre jüdische Identität dafür umso mehr. Lebowitz sagte dazu 2016 in einem Interview mit Johanna R Ginsberg in der New Jersey Jewish News: "I don´t really know how to describe it, the idea of people thinking of themselves as Jews, calling themselves Jews, feeling Jewish their entire lives, without once believing in God or going to synagogue or practicing any part of the religion. I can´t think of another religion of which that is true. <…> My Jewish identity is ethnic or cultural or whatever people call it now. But it´s not religious."

Als Lebowitz mit 19 Jahren dem Vorstadtleben nach Manhattan entfloh, hielt sie sich zuerst mit Gelegenheitsjobs, als Taxifahrerin, Putzfrau und Straßenverkäuferin über Wasser. In den frühen 1970ern konnte man mit dieser Art Jobs noch eine 120 Dollar teure Wohnung im West Village Manhattans finanzieren, allein um in New York zu leben. Heute eine sehr bizarre, undenkbare Vorstellung.

Sie hat dabei in Interviews oft betont, dass es für sie vor allem als lesbische Frau in den 1970ern unausweichlich war, ihr kleinstädtisches Umfeld in New Jersey zu verlassen und nach Manhattan zu gehen, da sie nur dort frei(er) und selbstbestimmt(er) leben konnte. Wie für fast alle LGBTIQ dieser Zeit, war es überhaupt nur möglich in der Großstadt (etwas) freier zu sein und auch dort nur in geschlossenen Räumen, den Clubs, den Bars, den Cafés. Auch im Bundesstaat New York stand Homosexualität noch bis Anfang der 1980er unter Strafe.

Kolumnistin für Andy Warhols "Interview Magazine"

Zuerst schrieb Lebowitz mit 21 für ein von Susan Graham Ungaro gegründetes Greenwich Village Kulturblatt names "Changes" für ein paar Dollar Filmreviews, bevor sie 1971 von Andy Warhol in die Factory geholt wurde. Warhol gab ihr zwei Kolumnen in seinem "Interview"-Magazine, das zu dieser Zeit vielleicht ein paar Hundert Leute lasen, allerdings alle wichtigen Repräsentant*innen der New Yorker Underground Bohème. Ihre humoristischen, viel zitierten Kolumnen "The Best of the Worst" (ebenfalls eine Filmkolumne über trashige B-Movies) und "I Cover the Waterfront" (Beobachtungen über die Kulturszene New Yorks) erschienen 1978 gesammelt als Lebowitz´ erstes Buch "Metropolitan Life" und machten sie mit 28 Jahren zur Bestseller-Autorin. Ihre zweite Veröffentlichung "Social Studies" von 1981, Lebowitz´ bis heute letztes Buch, zementierte ihren festen Platz als New Yorks schlagfertigste Intellektuelle. Seitdem leidet sie nach eigener Aussage seit vier Jahrzehnten unter "Writer´s Block". Ihrer Karriere hat dieser geringe Output wenig geschadet, bis heute wird sie auf jede Party eingeladen, zählte Diane von Fürstenberg, die bereits verstorbene Schriftstellerin Toni Morrison und Vanity Fair Editor Lisa Robinson zu ihrem engsten Kreis.

Ihre Kolumnen sind seit den 1980ern in unterschiedlicher Form mindestens fünfmal neu publiziert wurden und haben immer wieder neue Generationen von Leser*innen gefunden. Zuletzt erschienen sie als "Fran Lebowitz Reader", 2011. Darin finden sich so erhellende Lebensweisheiten, die auch heute noch Geltung besitzen, wie: "I believe in talking behind peoples´backs. That way, they hear it more than once." oder "I prefer dead writers because you don´t run into them at parties." Lebowitz´ Stil, in Form dieser kurzen beißenden Epigramme ähnelt dabei am ehesten der anderen großen New Yorker Society Kommentatorin und Partygängerin, Dorothy Parker.

Es erfordert ein besonderes Talent und vor allem eine große Portion Charisma, als Autorin so lange relevant zu bleiben, ohne jemals wieder ein Wort geschrieben zu haben. Dabei geht die Faszination von Lebowitz davon aus, dass heute niemand mehr so leben kann wie sie, ohne richtig zu arbeiten, einfach in den Tag hinein: und selbst in den 80ern musste sie von irgendetwas ihre Miete bezahlen? Lebowitz hat dafür aus ihrem eigentlich größten Talent - dem Reden (das Schreiben war für sie schon immer eine eher quälende Angelegenheit), eine Karriere gemacht, und tourt nun seit über 40 Jahren vor allem durch die Universtäten und Vortragssäle der USA.

Wie unterhaltsam das sein kann, beweist vor allem Martin Scorsese, vielleicht größter Fan ihrer trockenen Bonmots. Lebowitz muss in der siebenteiligen Netflix-Reihe nur ihren Mund öffnen, und Scorsese bricht bereits in schallendes Gelächter aus. Das kann mitunter befremdlich wirken, denn je mehr man sich mit ihrer Person beschäftigt, umso mehr Film- und Interviewmaterial gilt es aufzuspüren, in dem sie eigentlich noch amüsanter und scharfzüngiger ist, als in Scorseses Doku-Reihe.

Dauergast bei David Letterman

Legendär sind dabei vor allem ihre Auftritte bei David Lettermans "Late Night Show" in den 1980er und 90er Jahren. Mitte der 80er kam sie im fast vierteljährlichen Rhythmus in Lettermans Sendung, die sie auch dem nationalen US-amerikanischen Publikum bekannt machte (über die New Yorker Blase hinaus) und dabei selbst den professionellen Talkmaster Letterman an die Wand redete. Diese Scharfzüngigkeit hat Scorsese nun 40 Jahre später auf 210 Minuten Film gebannt und es ist mehr als unterhaltsam Lebowitz dabei zuzuschauen, wie sie in ihrem ikonischen Outfit aus Levi´s 501 Jeans, weißem Männershirt und Savile Row Jackett, stets mit Zigarette in der Hand, unsere Gegenwart auseinandernimmt.

Kennengelernt haben sich Scorsese und Lebowitz by the way höchstwahrscheinlich ebenfalls auf einer New Yorker Party, vor vielen Jahrzehnten, vielleicht dem Geburtstag von John Waters, aber wer weiß das schon noch.

Nach eigener Aussage hat Fran Lebowitz, abseits der Partys, ihr Leben auf der Couch liegend, rauchend und lesend verbracht. 12 000 Bücher hat sie im Laufe der Jahrzehnte gesammelt, besitzt bis heute keinen Computer, kein Smartphone und auch keine Schreibmaschine. Alle Texte, die jemals entstanden, schrieb sie mit der Hand und ließ sie von Freund*innen abtippen. Sie ist bis heute eine Anachronistin in einer digital-obsessiven Welt und so bleibt auch ihre schockierende Beobachtung, New Yorker*innen hätten mit dem Smartphone verlernt "richtig zu laufen", eine korrekte, aber traurige Wahrheit. Sie selbst ist vielleicht die letzte New Yorkerin, die noch mit offenen Augen durch ihre Stadt läuft, und damit ihre beste Beobachterin.

Es lohnt sich sehr, den "Fran Lebowitz Reader" auf dem Sofa liegend, rauchend, nochmal aufzuschlagen.



Weiterführende Links:

"Pretend it´s a City", Netflix, siebenteilige Serie > www.netflix.com

"The Fran Lebowitz Reader", Taschenbuch, 352 Seiten (Publisher´s Link) > www.penguinrandomhouse.com

Credit: Illustration von Amancia Hortera (with artist`s approval) > amanciahortera.com und Instagram: @amanciahortera


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